Die Flagge

Mitten in einer Wohnsiedlung in Hamburg hängt eine Reichskriegsflagge. Die meisten stört das nicht.

Wenn kein Wind weht, ist sie unscheinbar. Dann ist sie nicht mehr als ein schlaffes Stück Stoff, das an einer Hauswand herunterhängt, am Rande Hamburgs, mehr weiß als schwarz, mit einem Tupfer rot. Erst wenn sie im Wind flattert, zeigt sich das gesamte Muster: ein schwarzes Kreuz auf weißem Grund, in der Mitte ein Kreis mit einem Adler darin, und oben rechts in der Ecke die Farben des deutschen Kaiserreichs, schwarz-weiß-rot, darauf ein eisernes Kreuz.

Die Reichskriegsflagge, wie sie zwischen 1903 und 1921 an deutschen Kriegsschiffen wehte. Symbol der Feinde der Weimarer Republik, und auch heute gern genommener Ersatz Rechtsradikaler, die „ihre“ Hakenkreuzflagge nicht nutzen dürfen. Die ist verboten. Die Reichskriegsflagge ohne Hakenkreuz ist es nicht.

Aber darf man so ein Zeichen rechter Gesinnung einfach so hängen lassen?

„Mich stört das nicht, ich gucke nicht hoch.“ Die etwa 50 Jahre alte Frau, die das sagt, wohnt im Erdgeschoss, zwei Stockwerke unter der Flagge. Sie holt gerade einen Sack Blumenerde aus einer kleinen Gartenhütte, als ich sie frage, wem die Flagge gehöre. „Der Herr Müller, der hat so einen kleinen Haschmich“, sagt sie. „Er kommt aus Bayern, ist eigentlich ganz nett. Ist alt, hat Kehlkopfkrebs.“ Störe es Sie nicht, dass über ihrem Kopf so eine Flagge weht? „Müssen Sie die gegenüber fragen, die müssen ja drauf gucken.“

Gegenüber sitzt Frau Kurz*. Sie raucht auf ihrer kleinen Terrasse. Jedes Mal, wenn sie das tut, hängt die Fahne genau in ihrem Blickfeld.

Weggucken ist da schwierig. Ignorieren nicht.

„Ich kenn’ mich damit nicht aus“, sagt sie. Für sie sei das immer einfach nur eine Fahne gewesen. „Erst mein Mann hat mir gesagt, was das bedeutet. Er sagt, der Müller sei ein Patriot.“ Ihr Mann ist in Vietnam geboren. Herr Müller wisse das. Man habe sich immer nett unterhalten. Er freue sich, dass so viele Kinder hier seien, sagt Frau Kurz. „Da kam kein Spruch. Auch wenn mein Mann kein Deutscher ist, das sieht man ja.“

Störe die Flagge denn gar nicht? „Ich würde mir Sorgen machen, wenn hier mehr von denen aufschlagen würden, und hier Plätze für sich reklamieren würden. Aber das passiert nicht.“ Sie habe sich mal mit einem türkischen Bekannten über die Flagge unterhalten, als der auf sie aufmerksam geworden sei. Wirklichen Eindruck scheint dieses Gespräch nicht hinterlassen zu haben.

Während wir reden, versucht die Tochter von Frau Kurz, den Nachbarn „Freddy“ von seinem Balkon zu locken, um Fußball zu spielen. Freddy trägt einen St. Pauli Pullover. Von seinem Balkon könnte man die Flagge sehr gut sehen. Könnte.

„Mich stört das nicht. Muss ja nicht drauf gucken“, sagt er. Die DRK-Schwestern, die einige der Bewohner betreuen, hätten mal mit Müller gesprochen. Ohne Erfolg. „Der ist aber auch harmlos.“

„Ist doch nur eine Fahne“, sagt Freddy.

Selbst Menschen, die am meisten Grund hätten, sich vor einem rechten Nachbarn zu fürchten, haben kein Problem mit der Flagge. „Es ist ein demokratischer Staat“, sagt Herr Sayed mit deutlichem Akzent. Er wohnt direkt unter Herrn Müller. „Wenn er die raushängen möchte, soll er das tun. Solange er mir nichts tut. Es ist Aufgabe vom Staat oder der Polizei, die muss das abhängen“, meint er, nachdem ich ihm erzähle, dass die Flagge ein Symbol der Rechten sei. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass so eine Flagge an seiner Hauswand hängt. Er ist nicht der Einzige.

„Meinen Sie die schwarz-rot-goldene Fahne?“

Herr Heinkel wohnt direkt neben Herrn Müller im zweiten Stock. Er ist um die 70 Jahre alt, seine grauen Haaren liegen platt am Kopf, seine Augen sind ein wenig wässrig. „Mir ist die Flagge nicht aufgefallen“, sagt er. Ich erzähle ihm, was aus dem Fenster direkt neben seinem hängt. „Die Flagge sollte man abnehmen und wegschmeißen“, sagt Herr Heinkel. „Ich hab nichts für Rechtsradikale über.“

Auch Frau Parvard ist überrascht, als ich an ihrer Tür klopfe. Sie wohnt eine Etage über Herrn Müller, die Flagge hängt direkt unter ihrem Fenster. Aber als sie sich das erste Mal auf dem Balkon umguckt, auf der Suche nach der deutschen Reichskriegsflagge, von der ich ihr erzählt habe, denkt sie, ich sei wegen der schwarz-rot-goldenen Fahne zwei Balkons weiter rechts gekommen.

„Ich finde das fürchterlich“, sagt sie, als ich ihr dann die Reichskriegsflagge zeige und sage, wer die heute noch benutzt. „Diese Rechtsradikalen. Aber auch die Linken. Kann ich mit beidem nichts anfangen.“ Wisse sie, ob sich andere Bewohner mal über die Flagge beschwert hätten? „Hier kümmert sich keiner um den anderen. Ich kenne die vom Gesicht, aber nur vom Grüßen“, antwortet sie.

Damit gibt sie wahrscheinlich die Antwort darauf, warum die Fahne seit mindestens einem Jahr dort hängt.

Denn eine funktionierende Gemeinschaft hätte sich vielleicht zusammengeschlossen. Hätte gemeinsam versucht, den Nachbarn zu überzeugen, die Flagge abzunehmen. Oder hätte die Hausbesitzer gefragt, ob die nicht mal mehr nachhaken könnten, als die DRK-Schwestern.

Aber die Menschen in der Wohnanlage scheinen genug mit ihrem eigenen Leben zu tun zu haben. Da ist es vielleicht eine natürliche Reaktion, die Energie nicht für eine Flagge zu verschwenden, die niemanden weh tut. Da ist es leichter, zu schweigen.

Und wer bin ich, darüber zu urteilen? Ich habe ja auch nichts weiter unternommen.

*Alle Namen in dieser Geschichte sind verändert.