Diesen Text habe ich im Rahmen meiner Bewerbung für ein Volontariat beim Bayerischen Rundfunk verfasst. Themenvorgabe war: „Kleider machen Leute?!“. Wo geht also der bekennende Karnevalsmuffel hin? Zum Altweiber-Treiben auf dem Düsseldorfer Rathaus.

Die Krawattenjägerin

Ich habe Angst. Vor mir steht eine ältere Frau – rot-weiße Federn ragen aus ihrem schwarzen Hut, ein Fuchspelz liegt locker über ihren Schultern und an ihrem schwarzen Mantel baumelt eine große, rote Plastikschere. „Symbol dafür, dass man den Männern die Krawatte abschneidet”, sagt die Frau zu meinem Träger. Der Glitter auf ihren Wangen funkelt, als sie ihr Gesicht zu einem Lachen verzieht. Für mich ist es das Lachen des Todes. Denn ich bin eine Krawatte.

Dabei hatte ich mich so gefreut. Nach Monaten im muffigen Kleiderschrank hatte mein Träger mich vom Kleiderhaken genommen. Den Knoten hatte er seit dem letzen Mal nicht gelöst. Als mich mein Träger um seinen Hals stülpt, ernte ich kritische Blicke vom weißen Hemd und vom schwarzen Anzug, die er bereits trägt. Ich verstehe ihren Vorwurf, wirklich stimmig sehen wir nicht aus. Aber unser Träger ist Student, was soll man machen?

„Du siehst aus wie ein Sparkassenvertreter”, hatte ein Freund meines Trägers ihm das letzte Mal gesagt, als er mich getragen hatte. Ich glaube, das hat ihn verletzt. Mich nicht. Ein fingerbreiter Streifen bordeauxrot, ein fingerbreiter Streifen blutrot und eine dünne weiße Linie – so bin ich, eine Krawatte aus Seide, gemustert. Am Bauchnabel bin ich breiter als am Hals. Ich würde in einer Sparkasse nicht auffallen.

Aber mein Träger ist nicht in eine Sparkasse gegangen. Sondern zum Düsseldorfer Rathaus. Schon auf dem Weg dorthin hatte ich Menschen gesehen, die als Rennfahrer, Sektflaschen oder Mönche verkleidet waren. Ich hatte davon gehört, dass sich Menschen einmal im Jahr treffen und dabei so tun, als ob sie jemand oder etwas anderes wären, mit Klamotten als Hauptwerkzeug der Verwandlung. Heute musste dieser Tag sein!

Das Rathaus ist mit rot-weißen Ballons geschmückt, an einem Balkon steht auf einem blauen Banner „Uns kritt nix klein – Narrenfreiheit, die muss sein!” Darunter drängen sich circa 50 Frauen vor einer großen Tür. Viele von ihnen tragen dunkelblaue Perücken mit roten Strähnen, andere sind als Fröschköniginnen verkleidet: neongrüne Perücke, neongrüner Umhang, neongrüne Fühler.

„Unverschämtheit!” Mit diesem Ausruf wird mein Träger dann auf die Pelz-Frau mit der roten Schere aufmerksam – Helga Hesemann, Vorsitzende des Heimatvereins „Düsseldorfer Weiter”, gut sechzig Jahre alt, sauer.
„Wir waren immer die Ersten!”, erklärt sie meinem Träger aufgeregt und zeigt auf sechs ältere Damen, die ebenfalls dunkel gekleidet sind und einen Pelz über den Schultern tragen. Immer hätten sie direkt vor der Tür stehen dürfen.

„Die legten hier immer sehr viel wert darauf, dass man in alten Kostümen kommt und nicht in jungen Kostümen oder gar nicht angezogen ist!”, fährt Frau Hesemann aufgebracht fort und blickt zornig in Richtung der blauen Perücken, die 20 Meter entfernt vor der Tür für ein Foto posieren. „Nein, da wird kein Wert mehr drauf gelegt. Wir müssen uns hinten anstellen. Das ist das Letzte!”

Die „Düsseldorfer Weiter” sind die Traditionalisten unter den Karnevalisten. „Weiter” ist keine Aufforderung zum progressiven Denken, sondern der mundsprachliche Ausdruck für „viele Mädchen”. Und diese Mädchen möchten gleich das Rathaus stürmen, ein alter Brauch aus der napoleonischen Zeit, als die Frauen von den Männern unterdrückt wurden und nichts zu sagen hatten.

„Die Frauen wollten sich damit auflehnen und haben den Männern an dem einen Tag die Krawatte abgeschnitten. Weil die Krawatte ein Symbol des Mannes war”, erklärt Frau Hesemann. Es ist der Satz, der meine Freude, Teil des bunten Treibens vor dem Rathaus zu sein, in Angst umschlagen lässt.

Ich versuche, mich so gut wie möglich unter dem Mantel meines Trägers zu verstecken. Ich wittere Verrat. Auch wenn mein Träger Frau Hesemann zum Brauchtum ausfragt – ich bin mir sicher, er wusste, in was für eine Gefahr er mich bringen würde. Zum Glück redet Frau Hesemann erstmal über ihre eigene Verkleidung.

„Die alten Frauen gingen früher immer in schwarz”, erklärt Frau Hesemann, weswegen sie und ihre Freudinnen heute größtenteils dunkle Kleidung tragen. Nur ein weißes Spitzenblüschen und der rot-weiße Schal der „Düsseldorter Weiter” stechen hervor. Pelz, Mantel und Spitzenblüschen sind aber nicht ihre normale Kleidung.
„Jeans!”, antwortet Frau Hesemann auf die Frage meine Trägers, was sie denn sonst trage. „Jeans!”, inistiert sie nochmals. „Alt wird jeder, aber dass man das noch zeigen soll, dass sehe ich nicht.”

Mich interessiert das nicht – mein Blick klebt an der an großen, roten Plastikschere, die bei jedem Wort von Frau Hesemann hin und her schaukelt. Frau Hesemann tätschelt sie kurz und fährt dann in mit einer Hand in ihre Manteltasche. Zum Vorschein kommt ein Bündel abgeschnittener Krawatten – mein Krawatten-Herz macht einen Aussetzer.

„Ich hab hier noch ein paar vom vorherigen Jahr mit, vom Oberbürgermeister habe ich auch eine”, sagt Hesemann und blättert mit dem Finger durch die Spitzen von mindestens zehn meiner Kameraden, die ihrer Schere zum Opfer gefallen sind.

Ich habe das feste Gefühl, diese Frau wird das letzte sein, was ich sehe, bevor ich entzwei geteilt werde. Doch dann: die Rettung! Frau Hesemann entdeckt ein Mitglied des Organisationskomitees und lässt meinen Träger und mich zurück, um doch noch an den Anfang der Schlange zu kommen. Erfolgreich, um 11:11 Uhr sind die Pelz-Damen die ersten, die das Rathaus stürmen.

Der Oberbürgermeister trägt gleich mehrere Krawatten. Sie haben weniger Glück als ich. Im nächsten Jahr werden sie wieder an diesen Ort kommen – als Souvenirs in Frau Hesemanns Manteltasche.

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